Gedankenversunken verlasse ich den Orchestergraben. Ich könnte mich schwarz ärgern, dass ich bei den letzten Tönen aus dem Takt war. „Mathilda du bist so dämlich! SO DÄMLICH!!!“ schimpfe ich mit mir selbst. Mir ist bewusst, dass ich möglicherweise überspitzte Anforderungen an mich selbst habe, aber tut das nicht jeder Vollblutmusiker?
Nach dem Studium war ich froh einen Platz im Orchester gefunden zu haben. Meine Violine war schon von Kindheit an mein bester Freund, auch wenn diese Liebe niemand recht nachempfinden konnte.
Mitschüler hänselten mich, da ich wenig Augenmerk auf mein Äußeres legte und Tag und Nacht in meinem Zimmer beim Üben verbrachte. Die alten Komponisten und Meister wurden zu meinen Lehrern/Freunden/Wegbegleitern, ich spielte mir die Finger wund, um diesen Genies der Musikgeschichte meine tiefste Dankbarkeit auszudrücken. Jeder von uns kennt das Gefühl, wenn man Musik mit Erlebnissen verbindet. Der erste Kuss, die erste Autofahrt nach dem Erhalt des Führerscheins, der erste Tanz…eine Reihenfolge von Tönen kann dich schlagartig in die Vergangenheit katapultieren und holt wieder diese Gefühle hervor. Trauer, Glückseligkeit, Freude, Wut – die ganze Bandbreite an Emotionen.
„Das wird schon Mathilda – du bist eben etwas Besonderes…“ mit diesen Worten versuchte mich meine Mutter zu trösten. „Freunde sind wichtig, aber nicht das Wichtigste auf der Welt.“
Manchmal denke ich, damit lag sie einfach nur falsch und hätte sie mich mehr dazu genötigt, mich aus meiner Komfortzone zu bewegen und auf Menschen zuzugehen, wäre ich wohl nicht so einsam. Wobei, EINSAM nun ein dehnbarer Begriff ist. Ich habe schließlich meine Eltern, meine Großeltern und die Orchesterkollegen, mit denen ich mich allerdings privat nicht treffe. Einsam ist man, wenn man keinerlei sozialer Kontakte pflegt, oder?
Ich beginne die ersten Töne von Vivaldi’s Sommer zu spielen, eins meiner Lieblingsstücke, dabei schließe ich die Augen und gebe mich ganz dem Gefühl hin. Es ummantelt mich mit einer Stabilität und Wärme, die mir noch niemand in meinem Leben bieten konnte.
Durch das Klingeln an meiner Wohnungstür werde ich aus meiner Trance gerissen. Ich empfinde es als sehr unhöflich in so einem intimen Moment gestört zu werden.
Durch den Spion erkenne ich eine scheinbar männliche Gestalt. Kurz halte ich inne und überlege, ob ich überhaupt öffnen soll. Was, wenn es sich dabei um einen Trickbetrüger, Serienmörder oder Zeugen Jehova handelt?
Langsam öffne ich die Türe einen Spalt. „Ja bitte?“
„Es tut mir leid, aber ich bin neu hier im Haus und wohne direkt über Ihnen. BITTE, BITTE gönnen Sie mir ein wenig Ruhe, ich dreh noch durch bei dem Gefiedel!“
GEFIEDEL? Wie bitte? Dieser Banause!
„Sie meinen Vivaldi’s Sommer entspricht nicht dem, was Sie sonst gerne hören?“
Ich mustere ihn kritisch von unten bis oben. Pffff…war ja klar. Klobige schwarze Schuhe, denen eine Portion Schuhpolitur guttun würden, zerrissene Jeans, T-Shirt mit dem Namen irgendeiner unbekannten Band drauf, Bartschatten und strubbeliges schwarzes Haar, dass ER nun nichts mit der Kunst der Klassik anfangen kann, ist mir sofort klar.
Mit einem schiefen Lächeln grinst er mich an.
„Wissen Sie, ich bin Musikerin und verdiene meinen Lebensunterhalt damit, deshalb bin ich darauf angewiesen zu üben, damit ich meinen Beruf auch GUT ausüben kann, schließlich zahlen Menschen mit Musikgeschmack teilweise eine Unsumme um mich und andere spielen zu hören!“ motze ich ihn an.
„Tja scheinbar haben Sie nicht nur Talent, sondern auch Haare auf den Zähnen. Wenn Sie vielleicht nicht 24/7 üben müssten, wäre ich Ihnen schon zutiefst dankbar.“ mit diesen Worten lässt er mich stehen. Ich bin fassungslos. Haare auf den Zähnen. Ich bin ein vernünftiger und einfühlsamer Mensch und sehr sozial! So ein Idiot!
Leider hat diese Aktion dazu geführt, dass ich die Lust am Stück verloren habe, somit verpacke ich meine geliebte Violine im Violinenkasten und widme mich der Hausarbeit. Doch auch die will mir nicht von der Hand gehen, viel zu sehr rege ich mich über diesen Kerl auf! Frechheit!
Als ich am nächsten Morgen zur Orchesterprobe spaziere, durchquere ich wie immer den kleinen Park, hole mir einen Kaffee und ein Croissant bei meinem Lieblingsbäcker, werfe dem Kerl vor der Sparkasse eine Münze in seinen Becher und marschiere die letzten Schritte bis zur Philharmonie. Dort werde ich bereits mit aufgeregtem und hektischen Gewusel empfangen. Was ist denn nur los?
„Wusstest du das? Hast du schon davon gehört?“ Irmgard kommt hysterisch auf mich zu.
„Nein, was denn?“ ich zucke mit den Schultern. Hoffentlich sind wir nicht alle entlassen. Oh mein Gott, wie soll ich nur meine Wohnung bezahlen? Was wird aus meiner Altersvorsorge? Wo finde ich jemals wieder so einen sicheren Job der mir total entspricht? Ich werde kurz schnappatmig. Ich glaube ich krieg einen Herzinfarkt – wobei ich dafür vermutlich zu jung bin. Aber weiß man’s????
„Karsten – unser Dirigent – wurde entlassen! Fristlos! Er hat anscheinend Gelder unterschlagen! Das ist doch nicht zu fassen, oder?“
„Oh Gott!“ meine Hand fährt entsetzt zu meinem Mund. „Das hätte ich ihm nie zugetraut!“ Doch wenn ich ehrlich bin, hatte ich es ihm zugetraut, er war ein schmieriger, selbstverliebter Kerl, der gemeint hat, er kommt mit allem durch. Er hat auch stets die hübschen und gefügigen Musikerinnen vorgezogen, womit ich mich allerdings arrangieren konnte, da ich mit Leistung überzeugen wollte. Wahnsinn… was nun wohl passiert? Zumindest konnte ich meine angehende Panikattacke überwinden und meine Atmung hat sich normalisiert. „Ja und nun? Wer übernimmt den Posten?“
„Jemand von außerhalb. Keine Ahnung. Niemand wusste etwas Genaues.“
Ich hasse Veränderungen, ich bin nicht geboren für Veränderungen. Sogar meine Hamster, die nach ihrem Ableben ersetzt wurden, hatten immer wieder den gleichen Namen. Stupsi. Ich kann ganz schlecht mit Veränderungen. Spürbar steigt mein Puls. Ich glaube ich muss mich erst einmal setzen. Vorsichtig stelle ich den Violinenkasten neben meinen Platz. Rund um mich herum werden bereits die Instrumente aufgebaut und gestimmt. Ich packe meinen Kopf zwischen die Beine, um wieder ordentlich atmen zu können. Drei, zwei, eins. Ausatmen.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ höre ich eine fremde Stimme. Als ich die Augen öffne, sehe ich schwarze Lackschuhe, die direkt vor mir stehen. Langsam hebe ich den Kopf und erstarre.
„Was…machen Sie denn hier? Stalken Sie mich etwa?“ ich fixiere ihn fies mit meinen Augen. Was macht der Typ hier, der über mir wohnt?????
„Gott bewahre!“ ist seine einzige Reaktion und er lacht kurz auf, was mich doch ein wenig kränkt. Warum ist das so abwegig? Entspreche ich etwa nicht den normalen Stalker-Anforderungen????
Der Kerl klatscht kurz in die Hände, um sich die Aufmerksamkeit des gesamten Orchesters zu sichern.
„Guten Tag meine Damen und Herren! Wenn ich mich vorstellen darf, ich heiße Thomas Frobert und bin nun Ihr neuer Orchesterleiter, zumindest vorerst. Was die Zukunft bringt kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit.“ Bei den letzten Worten blickt er mir direkt ins Gesicht. Bah! Ich mag den Kerl nicht – so GAR nicht. So ein Schnösel.
Dreimal klopft er mit dem Taktstock auf den Notenständer. „So, zum Aufwärmen und damit ich hören kann wie gut ihr als Orchester interagiert, versuchen wir uns doch an Vivaldi’s Sommer.“ Er zwinkert mir zu. Pure Provokation!! Als wir die ersten Töne anspielen und ich meine Augen schließe, bin ich sofort wieder gefangen in dieser eigenen Welt der Noten. Ich gebe mich dem Gefühl voll und ganz hin, ich lebe und liebe Musik, es fließt durch meine Adern, nie im Leben könnte ich etwas anderes machen.
Ich werde von einem erneuten dreimaligen Klopfen des Taktstockes aus meiner schönen Blase gerissen. Plopp. „Bitte nochmal, ich möchte euch spüren, ich möchte, dass ihr es bis in jede Faser eures Körpers spürt. Was hat Vivaldi dabei empfunden, was wollte er transportieren, was bedeutet speziell der Sommer für ihn. Bitte nochmal.“
Wir beginnen nochmal von vorne, diesmal kann ich nicht abschalten. Ein geöffnetes Auge ist auf ihn gerichtet. Thomas heißt er – sagt er zumindest. Thomas. Hm. Nichtssagend würde ich nun meinen. Melodisch bewegt er seinen Körper im Takt mit, die Finger umfassen den Taktstock sehr behutsam und respektvoll. Eigentlich schön anzusehen, wäre er mir nur nicht dermaßen unsympathisch.
„Das war sehr gut meine Damen und Herren, ich bedanke mich dafür. Ich denke wir haben uns 10 min Verschnaufpause verdient – gehen Sie hinaus in die Sonne und tanken frische Luft und Energie.“
Ich fühle mich wie in einem Montessori-Kindergarten. Ich bin nicht hier, um mich der Natur und den dortigen Energien zu widmen, sondern um zu üben, damit ich mich verbessern kann! Nichts geht über Perfektion! Die Zuhörer bzw. Zuseher kommen, um ein perfektes Orchester zu hören und nicht um einer drittklassigen Schulband zu lauschen.
„Sie wollen nicht raus?“ er kommt auf mich zu – scheinbar bin ich die einzige Person, die ambitioniert ist und auf dem Stuhl ausharrt. „Würde Ihnen vielleicht guttun, auch könnte es nicht schaden einen Knopf an der Bluse zu öffnen, Sie sind zu bis obenhin! Dann sehen Sie nicht so verkrampft aus.“
Ich bin geschockt, das zählt doch wohl eindeutig zu sexueller Belästigung, die Aufforderung sich zu entblößen!
„Jetzt seien Sie mal nicht päpstlicher als der Papst. Das war nun nicht so gemeint wie Sie vermuten! Aber ein wenig Leichtigkeit würde Ihnen guttun. Mehr meinte ich mit dieser Aussage nicht.“ legt er beschwichtigend nach.
„Ich BIN leicht!“ blaffe ich ihn an, bis mir bewusst wird, dass man diese Aussage durchaus auch missverstehen kann. „Also ich meine, mein Leben HAT Leichtigkeit, ich bin sehr spontan und offen, also offen im Denken und so!“
Er lacht laut auf. „Seien Sie mir nicht böse, aber ich denke Sie sind die unentspannteste und verbissenste Person, die ich bisher getroffen hab. Aber das ist ja nichts Schlimmes. Manch einer ist eben nicht für Leichtigkeit geboren.“ Mit diesen Worten zieht er seine Schuhe aus und entblößt dabei 2 verschiedenfarbige Socken. Mir bleibt die Luft weg, dieser Mann trifft mich fern meiner Komfortzone!
Langsam füllt sich der Raum wieder und die Probe dauert noch geschlagene 3 Stunden, in denen ich mich ganz schwer auf das Wesentliche konzentrieren kann. Das sieht mir gar nicht ähnlich. Ich bin stets voll bei der Sache, strukturiert und konzentriert. Dieser Mensch löst in mir ein ganz großes Unwohlsein aus und ich kanns nicht definieren woran es liegt. An dem Chaos das er ausstrahlt? An der beschissenen Leichtigkeit die er predigt? Ich hatte definitiv bereits bessere Proben in denen mein Violinenpart perfekt geklungen hat. Ich bin SEHR unzufrieden mit mir und nehme mir fest vor, die verpatzten Teile zu Hause ausgiebig zu üben!!!!!
Ich spiele das Stück von oben nach unten, von links nach rechts, von hinten nach vorne bis ich mit mir zufrieden bin. Nicht lange, und es klingelt erneut an meiner Haustüre. Mir schwant Übles und ich öffne vorsichtig.
Thomas steht vor mir, die Augenbrauen nach oben gezogen. „Echt jetzt? Ist das Ihr Ernst Mathilda?“
Ich zucke mit den Schultern, warum kann er das nicht verstehen? Wir können wir beide Musik lieben und zu unserem Lebenselixier machen und dabei an zwei so unterschiedlichen Punkten stehen? „Ich war mit mir eben nicht zufrieden! Ich KANN es besser!“
In dem Moment umfasst er mein Gesicht mit seinen Händen und küsst mich spontan. Ich stehe wie angewurzelt da und weiß kaum wie mir geschieht, dennoch lasse ich den Kuss zu. Er fühlt sich überraschenderweise gut an!
Als er sich von mir löst sagt er nur trocken: „Lass mal los, sei einfach locker Mathilda und das Leben wird sich voller Leichtigkeit und von der schönsten Seite zeigen!“
Mit diesen Worten lässt er mich verdutzt zurück. Was ist hier gerade passiert?
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